The Berlin Brain – durchdacht ist anders

Heute ist ein guter Tag, denn es ist ein typischer Tag. Ich sitze im ersten Stockwerk der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin (FU), wo ich im Zuge meines Lehramtsstudiums viele langen und manchmal noch längere Stunden verbracht habe. Als mir immer klarer wurde, dass es sich bei diesem Gebäude um ein Missverständnis handelt, kam in mir der Wunsch auf, dieses Bauwerk der Außenwelt beschreiben und dabei die Stärken, aber vor allem die Schwächen der Architektur aufzuzeigen. Die Diskrepanz zwischen den Jubelarien auf die ach so moderne Gestaltung und der praktischen Nutzung ist himmelschreiend!

Meine Besuche waren relativ hochfrequent. Seminartexte wollten gelesen, Bücher wollten gesichtet und Hausarbeiten wollten geschrieben werden. Mein erster Besuch barg noch einen gewissen Zauber, ist die Philologische Bibliothek doch eines der Prunkstücke der FU. Gebaut zwischen 2001 und 2005 unter der Leitung von Lord Norman Foster, hatte das seltsame Gebäude von Anfang an seinen Spitznamen weg: „The Brain“. Eingebettet in die mehr oder weniger geradlinige Architektur der sogenannten „Rost- und Silberlaube“, besticht der Bau tatsächlich durch seine Formgebung. Der Vergleich mit einem Gehirn ist treffend, es liegt wie ein zuckendes Zerebrum mitten auf dem Campus. Die Außenhülle besteht aus schweren Glasplatten, die Bibliothek ist also hell und offensichtlich gibt es ein eigenes Klimakonzept. Sie ist durch ihre zentrale Lage einer DER Anlaufpunkte im studentischen Leben. Ihre geschwungenen Formen im Inneren, das weite Eingangstor und das Fehlen von Grenzlinien zeitigt ein Gefühl der Offenheit und des Freidenkertums.

Und damit ist das Positive leider auch schon gesagt. Die Funktionalität dieses Bauwerks muss sowas von in Zweifel gezogen werden, dass man meint, der gute Norman Foster hätte es niemals nötig gehabt, in einer öffentlichen Bibliothek arbeiten zu müssen. Die Arbeitsplätze sind ringförmig um die Bücherregale angeordnet, allerdings so, dass man letztere im Rücken hat. Der „freie“ Blick, den man dadurch erhalten könnte, wenn man nicht direkt vor einer Wand oder jemandem gegenüber sitzt, ist ganz nett. Allerdings führt diese Sitzweise dazu, dass ständig Menschen hinter dem eigenen Arbeitsplatz hin- und herwuseln. Und zwar nicht gerade leise, aber zum Verhalten der Kommilitonen komme ich später. Jedenfalls ist ein weiteres Ärgernis dieser offenen Bibliothek, dass wirklich alle Geräusche durch alle Stockwerke (Keller plus Erdgeschoss plus Etagen 1-3) dringen. Fällt dem Kommilitonen im Erdgeschoss ein Buch runter, höre ich das, auch wenn ich unterm Dach sitze. Räuspert sich jemand im zweiten Stock, ist es auch im Keller zu vernehmen.

Es gibt hier leider so einiges, das den tatsächlich Arbeitswilligen mit der Zeit ganze Nervenstränge kostet: Jeder Arbeitsplatz hat eine Leuchte/Lampe, die zwar ebenfalls durch eine nicht von der Hand zu weisende Ästhetik besticht, in den meisten Fällen aber unheimlich knarzt, wenn sie in Schwingung versetzt wird, also bei fast jedem Anschlag auf der Tastatur. Im Sommer wird die Belüftung u. a. über die Dachluken geregelt, die unheimlich quietschen, wenn sie geöffnet oder geschlossen werden. Da dies automatisch geschieht und das Gebäude sich quasi selbst reguliert, erreicht dies Öffnen und Schließen an bestimmten Tagen eine nervtötende Frequenz und „die verbrauchte Luft wird über ein zwischen Außenhülle und Innenmembran befindliches Klappensystem am Zenit der Bibliothek wieder herausgeblasen.“ (Link). Jedes Mal darf man sich am ächzenden Kreischen erfreuen.

Überhaupt, das Dach: Seit ich hier studiere, also seit 2010, war es bisher in jedem Herbst/Winter so, dass eine Armada von Plastikeimern aufgestellt werden musste, um durch die Außenhaut dringende Wassermassen aufzufangen. Ein gar drolliges Bild, wenn man das Flaggschiff der FU betritt und sich erstmal einen Weg durch geschätzte zwanzig Eimer bahnen muss. Die Recherche-Rechner am Eingang funktionieren nur sporadisch, in den Prüfungsphasen zeigt sich, dass die Anzahl der Schließfächer einfach nicht ausreicht, und auf jeder Etage gibt es ein! Klo für jedes Geschlecht (nicht so im Erdgeschoss, wo das Männerklo ersatzlos der Behindertentoilette geopfert wurde).


Das mit Abstand Unterhaltsamste an „der Philologischen“ sind jedoch die Studierenden. Das Verhalten der hier „Arbeitenden“ ist katastrophal. Respekt gegenüber anderen, Kollegialität und Rücksichtnahme sind Begriffe, die offenbar von vielen hier schon vor dem Betreten der Bibliothek aus dem internen Lexikon gestrichen wurden. Gerade vor dem Hintergrund der hellhörigen Akustik sollte dem geneigten „Nutzer“ vielleicht zu Bewusstsein kommen, dass Handys leise gestellt werden können und man, wenn es dann schon klingelt, nicht unbedingt sofort drangehen muss mit den Worten: „Warte mal eben, ich bin in der Bib“ (hektisches Rausrennen inklusive). Mittlerweile kenne ich den Großteil der zur Verfügung stehenden SMS-Klingeltöne und kann unterscheiden, ob jemand sein Mac Book Air oder sein Windows-Betriebssystem hochfährt. Gern gesehen sind zudem die Damen, die bei der Schuhauswahl nicht bedenken, dass sie den ganzen Tag in clausura (lat. „Fort, Kastell“) verbringen wollen und sicherlich zehn Mal auf acht Zentimeter hohen Absätzen hinter ernsthaft arbeitenden Menschen herumstöckeln werden.

Das hört sich alles nach Miesepeterei und konservativem Traditionalisten-Denken an. Aber versucht mal, eine Hausarbeit in einem Hühnerstall zu schreiben. Und um nichts anderes handelt es sich bei der Vorzeige-Bibliothek der Elite-Universität in Dahlem. Einen akustisch hervorragend konzipierten Großraum, in dem man immer wieder zum Misanthrop mutiert.

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One Response to The Berlin Brain – durchdacht ist anders

  1. Anica sagt:

    Wo ich doch gerade in der Phil. Bib. sitze: es muss doch noch dringend erwähnt werden, dass dieses Meisterwerk der Architektur ein auch in Sachen Technik so ziemlich 90er ist. Das W-LAN Netzwerk ist spätestens zur Mittagszeit völlig überlastet. Während man darauf wartet, dass eine Internetseite lädt kann man also getrost Mittag essen gehen. Bei der nächsten Seite reicht es dann für ‘nen Kaffee. Also entweder wird man mit der Hausarbeit nie fertig oder man arbeitet wie in den 50ern – ohne Internet!

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