Matthias Lilienthal und ich haben etwas gemeinsam: Für uns beide ging im Sommer eine Ära zu Ende und wir beide starteten unser vorerst letztes Projekt. Er war neun Jahre lang Intendant am Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) und hat es geschafft, die drei Bühnen HAU I, II und III in der Wahrnehmung und Zuschauergunst deutlich nach vorne zu bringen und aus „Provinzbühnen“ Deutschlands „aufregendste Avantgarde-Adresse“ zu machen (Quelle).
Im Juni zog er sich aus der Intendanz des HAU zurück, allerdings nicht ohne zwei grandiose Paukenschläge: Die Freilicht-Ausstellung/Installation „Weltausstellung“ auf dem Tempelhofer Feld und die grandiose, wagemutige und sonochniedagewesene Inszenierung eines der besten, weil wahnsinnigsten und vielschichtigsten, Bücher, die ich je gelesen habe: „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace.
Dieses Buch ist megalomanisch! Es handelt sich um ein Konvolut aus lose verbundenen Erzählsträngen, immer wieder aufs Neue faszinierender Sprache, aufregenden Ideen und Abgründen der menschlichen Existenz. Die in der deutschen Übersetzung 1545 Seiten (davon 143 Seiten Fußnoten!) sind mit den Adjektiven genialisch, wahnsinnig, maßlos und maximal unterhaltend nicht annähernd passend beschrieben, aber eine Beschreibung ist wohl auch ganz einfach nicht möglich. Um den Inhalt mit einem Satz zu versuchen: In den in naher Zukunft zusammengeschlossenen Staaten USA, Kanada und Mexiko (Organisation Nordamerikanischer Staaten, O.N.A.N.) versuchen sowohl der Geheimdienst, als auch eine Quebecer Separatistenorganisation (Assassins des Fauteuils Roulants) an die Masterkopie eines Films zu gelangen, den der Regisseur James O. Incandenza unter dem Titel „Unendlicher Spaß“ drehte (bevor er sich tötete, indem er seinen Kopf in eine Mikrowelle steckte) und der so komisch im Sinne von witzig-unterhaltend ist, dass der Betrachter sich und seine Umwelt vergisst und den Film immer wieder anschaut, bis er an Körperversagen stirbt. Der Film befindet sich nach Einschätzung der Suchenden entweder in der Tennisakademie, die Incandenza gegründet hat und auf der sein Sohn Hal zum Spitzenspieler ausgebildet wird, oder in der gegenüber liegenden Rehamaßnahme „Ennet House Drug and Alcohol Recovery House“. Die Themen des Buches sind ebenfalls nahezu unendlich, Wikipedia listet als die wichtigsten: Drogenabhängigkeit, Hedonismus, Depressionen, Kindesmissbrauch, Materialismus, die Unterhaltungsindustrie, den Unabhängigkeitskampf von Québec und Tennis.
Jedenfalls wurde immer wieder mal überlegt, das Buch auf die Bühne zu bringen, was angesichts des schieren Umfangs niemals in herkömmlicher Weise gelingen kann (in München wurde es versucht, die Kritiken waren eher so naja). Matthias Lilienthal aber hatte eine Form gefunden, die dem Werk angemessen ist: „Unendlicher Spaß – 24 Stunden durch den utopischen Westen“. Dabei wurde der Zuschauer (ich war Teil der Premieren-Aufführung) tatsächlich 24 Stunden an neun Orten des „alten“ West-Berlins „bespaßt“. Verschiedene Regisseure und verschiedene Schauspieler/-teams präsentierten dabei auf vielfältige Art und Weise ausgewählte Teile des Buches. Von Station zu Station ging es in Doppeldeckern, es gab Carepakete mit Wachmachern und die ganze Reise hatte neben dem Schauspiel besonders die „moderne“ Architektur der 60er und 70er Jahre zum Thema.
Ich war absolut begeistert! Das Buch ist wie gesagt in allen Belangen beeindruckend, aber was das HAU daraus gemacht hat, ist einfach nur fantastisch. Ich habe versucht, aufzufangen, was mit begegnete und die Höhepunkte sollen nun – aufgrund der Menge in zwei Teilen und dabei chronologisch – gezeigt werden. Ein wahrlich Unendlicher Spaß – vorerst letztmalig analog. (Lest die Links, es lohnt sich).
Station I: Steffi-Graf-Stadion des LTTC Berlin in Grunewald
Station II: Ehemalige Abhöranlage auf dem Teufelsberg, Grunewald
Station III: Vivantes Klinikum Neukölln, leerstehende Komplexteile
Station IV: David Foster Wallace Center, eigentlich Campus Benjamin Franklin, Institut für Mikrobiologie und Hygiene, Steglitz (interaktives Interview mit dem Übersetzer des Buches Ulrich Blumenbach und Halbzeit).
Alle Fotos: © Florian Kuhne
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