Beim Aufräumen der zwei Schuhkartons mit allerlei möglichem und unmöglichem Krimskrams, die ich (wahrscheinlich aus reiner Faulheit) so wie sie waren aus Münster nach Berlin mitgeschleppt habe, und die seit einem Jahr unangetastet auf einem Regal standen, fielen mir gestern zwei DIN-A-4-Seiten Textes in die Hände, die ich mir einst in meiner drölfzigsten Dada-Begeisterung über den Schreibtisch gepinnt hatte. Einen von beiden muss ich hier wiedergeben, um diese Gedanken, diese Anklage an die Welt mehr Menschen zugänglich zu machen. Gerade die angesprochene „Vermassung und Vermanschung“ liegt mir tagtäglich schwer im Magen, nur ist es so schwer, etwas dagegen zu tun.
Also Leute, nicht vermanschen, selber tätig und kreativ werden und vor allem: Dada rezipieren! Diese Denker und Künstler hatten ja so Recht! Ihre Ideen und ihre Einstellung zur Welt sind heute, 95 Jahre nach Gründung des Cabaret Voltaire, genau so aktuell wie eh und je. In diesem Textauszug wird von einem „Menschenideal“ gesprochen, das ich teile und für gut befinde: Die Akzeptanz der Persönlichkeit und „des inneren Ranges“. Aber lest selbst:
„Kunst kann nur herrschen oder untergehen. Wenn der Geist der Persönlichkeit und des inneren Ranges nicht akzeptiert wird, gibt es keine Kunst. Hier liegt der tiefere Sinn des Dadaismus und aller Gedanken, die sich daran knüpfen. Was der Dadaismus wirklich will, ist eine Revision gegenüber dem Menschenideal, für das die Kunst nur ein Symbol ist.
Was ich denke, ist, dass die Haltung Dadas heute genau so berechtigt ist wie im Jahre 1916, zur Zeit seiner Gründung. Dada war keine zeitlich begrenzte Angelegenheit. Es ist der Protest des geistigen Menschen, der Persönlichkeit, der schöpferischen Einzigkeit, gegen die Vermassung und Vermanschung, die mit einer Umkehrung aller Werte (allerdings anders als Nietzsche dachte) geendet hat. […] Dada ist deshalb nicht nur der Kampf des schöpferischen Menschen gegen die Mechanisierung, gegen die Masse, gegen den Komfort, sondern auch gegen die Unmoral, gegen das Sichgehenlassen, gegen die faulen Witze, gegen die Anna-Blume-Instinkte. […] In Dada liegt die Abwendung von einem oberflächlichen Optimismus, die Ablehnung der Idee des Fortschritts, die Wiederannahme der Ewigkeit und des Todes.
„So weit ist es auf dieser Welt gekommen, auf den Telegrafenstangen sitzen die Kühe und spielen Schach.“ Dada ist die „So weit ist es also in dieser Welt gekommen“-Weltanschauung, mit allen negativen, positiven und schöpferischen Reaktionen.“
Richard Huelsenbeck: Mit Witz, Licht und Grütze, 1957
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